TAZ, 29.01.2007
Die Vermessung der Innenwelt
Den Blick scharf gestellt, und schon geht's los, das Kino im Kopf, der
Trip in den Dschungel, an den Südpol, zum Erdmittelpunkt: Die Galerieräume
Laura Mars, Upstairs Berlin und Weisser Elefant zeigen Zeichnungen von
selbstvergessenen Exkursionen
von KATRIN BETTINA MÜLLER
Undurchdringlich scheinen die Schatten unter dem Laub. Zeichnung für
Zeichnung scannt der Blick die dichten Schichten aus Blattwerk ab, die
keinen Grund, keinen Stamm und kaum einen Ast erkennen lassen. Alles Licht,
was sichtbar wird, liegt auf den Oberflächen der Blätter. Je
mehr man von Vitek Marcinkiewicz' kleinformatigen Zeichnungen sieht, desto
mehr stellt sich der Eindruck einer langsamen Bewegung her, eines mühsamen
Vorwärtskommens Schritt für Schritt. Nirgendwo gibt es Ausblick,
Überblick oder Orientierung: Man ist gefangen in diesem Dickicht.
Der Titel der Serie, "Kongo", verstärkt noch die Anmutung
von Dschungel und Undurchdringlichkeit. Dabei sehen Marcinkiewicz' Pflanzen
gar nicht besonders afrikanisch aus.
Seine Zeichnungen absorbieren den Betrachter - und erzählen gerade
deswegen über das Wesen der Zeichnung selbst: Denn so, wie die Kongo-Folge
den Blick lenkt, zieht sie den Betrachter mit fast filmischen Mitteln
in eine Bewegung der Selbstvergessenheit hinein, die dem Zustand des Zeichners
während der Arbeit gleicht. Ein Scharfstellen des Blicks, eine Konzentration
auf ein Thema, ein Vergessen der Zeit. Es ist dieses Abkoppeln vom Außen,
dieses Öffnen eigener Wahrnehmungsräume, die das Medium Zeichnung
immer wieder spannend machen. Mit Marcinkiewicz hat die Galerie Laura
Mars eine dreiteilige Ausstellungsreihe "Der konzentrierte Sinn -
Zeichnung" eröffnet. Von den Arbeiten dort lässt sich gut
ein Boden schlagen zu anderen Künstlern, die zurzeit in Berlin mit
Gezeichnetem zu sehen sind.
Einer Landschaft als Fixpunkt der Versenkung ist auch Emma Stibbons Zyklus
"Antarctica" gewidmet, der bei Upstairs Berlin gezeigt wird.
Die britische Künstlerin reiste im Januar 2006 mit einem Expeditionsschiff
in die Antarktis; eine Reise mit Wissenschaftlern, die ausnahmsweise eine
Gastkünstlerin mit an Bord nahmen. An diesem exklusiven Erlebnis
lässt Stibbon mit ihren großformatigen Bildern teilhaben. Um
der besonderen Helligkeit des antarktischen Sommers, mit fast 23 Stunden
Tageslicht, gerecht zu werden, entwickelte sie eine eigene Technik: Mit
heller Kreide zeichnet sie auf rosa und blau grundierte Flächen,
die durch die hellen Schleier schimmern.
Stibbons Bilder sind großartig, man kann sich berauschen an der
dramatische Szenerie von schroffen Felsklüften, Gletschern und treibenden
Eisschollen und immer wieder den Nebeln über dem Wasser hinterher
träumen. Aber das erinnert mehr als nur zufällig an die Ästhetik
der Landschaftsbilder der Romantiker im 19. Jahrhundert, für die
der menschenabweisende und schwer zu erreichende Ort zugleich die Erfahrung
von Erhabenheit versprach. Auch Stibbon überhöht den Effekt
der Einsamkeit. Nichts in den Bildern erinnert an die Umstände ihrer
Reise, an das Forschungsteam, das mit der Vermessung des unermesslich
Scheinenden beauftragt ist.
Im 19. Jahrhundert hatte die Welt noch viele weiße Flecke, die sich
der Imagination als Projektionsfläche anboten. Wie sie besetzt wurden
und damit das Erlebnis des Unberührten zur allmählich ausverkauften
Ware wurde, reflektiert Stibbons Arbeit nicht mit. Ihre Zeichnungen blenden
den Preis, den sie für ihr Verlangen nach Konzentration und Unbedingtheit
gezahlt hat, aus.
Ganz anders erzählt Pia Linz von einer Amalgamierung von Natur und
Kultur. Sie lebte mit einem Stipendium ein Jahr in London und hat dort
an einer großen Zeichnung des Mile End Parks gearbeitet. In der
Ausstellung "gezeichnet 2" in der Galerie Weißer Elefant
zeigt sie Detailstudien, die Ansichten und Vogelperspektive zusammensehen,
die Vegetation an den Wegrändern klappt dazu noch wie in einem Modell
nach außen. Auf diese Weise geht Linz immer wieder den Weg von der
Nah- in die Aufsicht und verbindet verschiedene Erfahrungsarten, etwa
die des Spaziergangs mit der des Studiums von Plänen.
Die Ausstellung "gezeichnet 2" stellt sechs Künstler vor
und dehnt den Begriff der Zeichnung. Gezeichnet sind eben auch die großformatigen
Bilder von Heike Jeschonneck, die Objekte und Architekturen in Wachs hineinkratzt.
Die Wachsschicht scheint dabei auch Mittel zum Überdecken und Ausblenden
der Umgebung zu sein. Das Herausgekratzte wirkt wie ein aufgetauchtes
Bild: Das Erste, was die Erinnerung wiederherstellt. Da sieht man zum
Beispiel die Volksbühne, als ob sie in einer Steppe stünde,
und einen Zug von Reitern, der sich ihr nähert. Überflüssiges
scheint unter dem Wachs begraben, Platz ist gemacht für neue Verbindungen.
Eine ganz andere Topografie, die aber auch von einer Bewegung in die Tiefe
freigelegt wird, stellt Andreas Seltzer vor. Dessen Ausstellung eröffnet
am 2. Februar bei Laura Mars. Seltzers Zeichnungen sind ausgesprochen
farbig, rot, blau und gelb. Eng geschriebene Zeilen aus roter Schrift
liegen dicht an dicht auf dem Papier, in sie hinein bohren sich Windungen,
Wege, Tunnel. Wie Därme durchqueren sie das Rot der Schrift und die
blau ornamentierten Flächen, verzweigen und verästeln sich zu
Gefäßsystemen, bilden Nischen und Nester im Innern der Schrift.
Von Bild zu Bild scheint man tiefer hinabzukommen, und das nicht nur,
weil der Text eine Abschrift von Jules Vernes Roman "Reise zum Mittelpunkt
der Erde" ist.
Es ist wieder das Gefühl einer Expedition, eines endlosen Weges und
der überall möglichen Abirrungen, in die Andreas Seltzer das
Abenteuer des Zeichnens übersetzt. Schrift und Bilder verschmelzen
zu einem Sog, einem Strudel, der einen erst nach langer Zeit wieder ausspuckt.
Diese ständige Bewegung nach innen ist ein Kino im Kopf, fern jeder
Erlebniskultur. Die Hand auf dem Papier und der Blick, der ihr folgt,
legen alle Wege zurück. Der Rest geschieht in Gedanken.
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